Katrin Michaels: Theater der Zeit, 2004
Sie arbeiten theaterpraktisch und theoretisch. Beeinflussen sich diese Bereiche gegenseitig?
Alles was ich beim Schreiben probiere, kommt auch zur Anwendung, wenn ich theoretisch arbeite. Mich interessiert besonders das Konzept des "impliziten Empfängers", das den Betrachter schon in den Schreibprozess einbezieht. Ich glaube an ein Theater, das Emotionen hervorruft, und versuche deshalb, eine Rhetorik der Gefühle zu entwickeln. In "Versuchung" bemühe ich mich zum Beispiel darum, dass sich der Zuschauer zunächst mit einer Figur identifiziert. Anschließend versuche ich, eine Distanzierung zu erreichen, dadurch, dass diese Figur etwas macht oder sagt, mit dem wir nicht einverstanden sind. Dann aber passiert ihr etwas, was wieder unsere Symphatien weckt. Das führt schliesslich dazu, dass sich der Zuschauer mit jemandem identifiziert, den er auch ablehnt – zu einem inneren Widerspruch also.
Sie arbeiten in Ihren Stücken häufig mit der Form des Monologs. Warum?
Ich glaube, bei einem Monolog geht der Zuschauer davon aus, dass die Figur die Wahrheit sagt. Hier kann der Autor das Publikum überraschen: es muss erkennen, dass es sich auf überhaupt nichts verlassen kann. Wir manipulieren ja ständig unsere Erinnerungen, um ein Bild unseres Lebens zu fabrizieren, mit dem wir zufriedener sind. Diese Notwendigkeit, die Realität zu manipulieren, ist eines der Themen meines Stückes. Es folgen zwei weitere Schritte: Das aus der Manipulation der Wahrheit resultierende Missverständnis und schließlich das Erkennen der Wahrheit. So entwickelt sich das Stück zur "Tragödie".
Worin unterscheidet sich das relative Drama, das Sie propagieren, von der traditionellen Form?
Da ist die ideologische Komponente. Mich interessieren aktuelle Themen, aber ich möchte keine Botschaft vermitteln; dazu habe ich gar kein Recht. Die Idee des "relativen Dramas" ist es, ein Stück mit einem dramaturgischen Spiel, einer Strategie zu schreiben, das die aktive Teilnahme des Publikums ermöglicht. Es ist der Zuschauer, der Schlussfolgerungen ziehen muss. Die Aufgabe des Autors ist meines Erachtens nicht Lehren zu erteilen, sondern einen neuen Blick auf die Realität zu eröffnen.
In ihren Stücken geht es um sehr aktuelle Themen. Orientieren Sie sich an dokumentarischem Material?
Natürlich. Aber wenn ich zum Beispiel von einem Zeitungsartikel ausgehe, interessiert mich nicht die "Wahrheit", die die Schlagzeile suggeriert; Schlagzeilen banalisieren die Realität. Ich nehme vielmehr die Nachricht und konstruiere davon ausgehend eine Geschichte. In "Versuchung" ging ich von so einer Zeitungsnotiz aus: "Die Polizei sucht die Familie eines Mannes, der tot und ohne Papiere auf der Straße aufgefunden wurde". Ich habe mich gefragt: Warum sucht die Polizei die Familie? Der Mann hat keine Papiere oder Dokumente. Es könnte ein Bettler oder ein illegaler Einwanderer sein. Warum sucht ihn die Familie nicht? Ich stelle mir dazu eine Geschichte vor: Die Tochter des Toten erfährt, dass ihr Vater überfahren wurde. Wenn sie nun Anspruch auf den Körper erhebt, um ihn zu begraben, wie es die Tradition verlangt, dann wird sie, die ja auch illegal ist, gezwungen in ihr Land zurück zu gehen. Ein Dilemma wie in "Antigone": Entweder begräbt sie ihren Vater, oder sie hat eine Zukunft in diesem Land.
Die Immigrantenproblematik taucht in mehreren Ihrer Stücke auf. Was interessiert Sie an diesem Thema?
Wenn jemand seinen Ort verlässt – Exil, Auswanderung –, kommt der Moment, wo er merkt, dass er weder zu dem Land gehört, in das er gegangen ist, noch zu dem, das er verlassen hat. Er kann nicht zurückkehren. Denn wo er herkommt, ist das Leben ohne ihn weiter gegangen. Er wäre lästig, wie ein Toter, der aus dem Grab zurückkommt. Das ist das Drama des Exils: man verlässt nicht nur sein Haus, sein Land, seine Familie, seinen kulturellen Kontext, sondern man gehört plötzlich nirgends mehr hinzu.
Worin liegt für Sie der Kern des Konflikts im Zusammenleben von Arabern und Europäern mit ihren unterschiedlichen Kulturen?
Im Problem der Integration. Man muss erreichen, dass die Einwanderer in die Gesellschaft, in die sie kommen, auch hineingelangen. Das soll aber nicht heißen, dass sie auf ihre kulturelle Identität verzichten müssen, um sich zu integrieren, sondern dass die Gesellschaft, die sie aufnimmt, sich einlässt auf das, was diese Leute mitbringen. Das wäre ein dynamisches Konzept von Identität. Unsere Identität ist nichts Starres. Der einzige Weg, sie zu bewahren, ist es zuzulassen, dass sie sich im Kontakt mit anderen Kulturen entwickelt.
(Katrin Michaels im Gespräch mit Carles Batlle. Theater der Zeit, Juni 2004)