Fragment aus Solitude
I
DER ANSTIEG
Hinter Ridorta hatten sie einen Wagen angehalten, der den gleichen Weg zurücklegte und Matias, der ihre Kräfte schonen wollte, fragte den Fahrer, ob er sie bis zum Gebirgspass mitnehmen könne. Der Bauer, ein fröhlicher Mensch und erfreut darüber, für eine Weile Gesellschaft zu haben, machte ihm sofort neben sich auf der Querbank Platz und sagte zu Mila, sie solle sich hinter sie kauern, in ein Tragenetz. Sie blickte dankbar diesen unbekannten Mann an, der Mitleid mit ihr zu haben schien. Trotz ihrer kräftigen Beine war sie müde. Ihr Ehemann hatte ihr erzählt, dass es von Llisquents, wo sie der Ordinarius abgesetzt hatte, bis nach Ridorta ungefähr eine halbe Stunde Weg sei, und nun waren sie schon fünf lange Viertelstunden unterwegs, als sie endlich den schwarzen Kirchturm des Dorfes hinter einem grünen Hügel auftauchen sahen: bis sie von diesem Zeitpunkt an den Wagen fanden, war wieder eine lange Viertelstunde vergangen, und das alles, zusammen mit der Sonne, dem Staub und dem beschwerlichen Weg, hatte die Laune der armen Frau immer schlechter werden lassen.
Sobald sie es sich aber in ihrer Nische auf der Matte mit einem Kleiderbündel darauf bequem gemacht hatte und den Rücken an eine Wagenwand lehnte, löste sich das Tuch, dass sie wie ein Dächlein über dem Gesicht trug und als sie es an den Ecken ergriff, schlug es ihr gegen die Wangen. Sie war erhitzt und der kühle Lufthauch des Tuches an ihrem Hals und Wangen war wie eine süße Liebkosung, die sie ein bisschen erschauern ließ und sie ganz erfüllte: mehr noch, als sie aufhörte sich Luft zuzufächeln, fühlte sie sich ausgeruht und heiter genug, um die Schönheit der sie umgebenden Landschaft zu betrachten, die ihr Matias so viele Male angepriesen hatte.
Sie blickte sich nach allen Seiten um. Hinter dem Wagen führte der Weg nach unten, mit vielen Biegungen und Abzweigungen, daneben die Landstraße, voller Pfützen, tiefer Schlaglöcher und Resten trockenen Schlamms, den die Räder im Fahren nach und nach mitschleiften, so unausweichlich, dass im Hochsommer alles weg sein würde. Dann würde die Straße eine Zeit lang mit Staubwolken bedeckt sein, bis die herbstlichen Stürme sie wieder in den gleichen schlechten Zustand versetzen würden.
Links vom Wagen erhob sich eine gewaltige Böschung, oben breiter als unten, so als ob sie sich auf den Weg stürzen wollte, aber gestützt durch trockene und ungleichmäßige Wände, hier und dort ausgebeult und gefährlicher als die eigentliche Böschung. Obendrauf klammerten sich terrassenartig Hecken, dazwischen teilweise abgeschnittene Agaven, deren Blätter, fest und fleischig, wie eine Handvoll Schwerter in die Hecken hineinragten, teilweise Tamarisken mit sich lebhaft bewegendem Geäst oder Reihen von Dornenhecken, die gerade ihre weiße Blüte begannen.
Auf der anderen Seite, einige Meter unterhalb der Straße, begann die Ebene von Ridorta, an den Hügel geschmiegt und ganz in kleine symmetrische Felder aufgeteilt, so wie ein großes Schachbrett. Die Felder waren kleine, bewässerte Obstgärten, der Reichtum des Dorfes, stückchenweise zwischen allen Bewohnern aufgeteilt, dank alter Erbvereinbarungen. Jetzt sah man dort ringsherum erste fröhliche Anzeichen des frischen, zarten Grüns wachsen, welches das bräunliche Gelb des Bodens durchsetzte, und in der Mitte die Bewässerungsgräben voll klarem Wasser, die den Boden wie Ackerfurchen durchzogen.
Mila konnte ihre Augen von so viel Schönheit nicht abwenden. Ihm, dem Mädchen aus der großen Ebene, ausgedörrt, weil es ihr an Arbeitskräften, Wasser und Düngung fehlte, kam das alles unwirklich vor, ihr schien alles wie ein Zauberspiegel, dass diese kleine Hochebene, umschlossen von einem Hügel voller Häuser und von nackten Steinbergen, so ein fruchtbares und fröhliches Leben aufwies. Kein Stück braches Land, kein Unkraut, das die Säfte der Erde verschlang! Alles umzäunt, alles von oben bis unten gehackt oder gepflügt, alles liebevoll angelegt und bestellt, alles üppig wachsend, mit großer Freigebigkeit und gutem Willen!
Dort unten, in Milas Heimat, verteilten sich die Menschen auf weites Land, ließen zwischen den Feldern möglichst viel Platz, hielten die Raine sehr breit und ließen sie von Laubwerk und Unkraut aller Art überwuchern, dort sonnten sich die Eidechsen und weideten einige magere Kühe die trockenen Gräser, abgemagert bis auf die Rippen, wie Skelette und mit spitz herausstehenden Beckenknochen, die ihnen beinahe die Haut zu durchbohren schienen. Hier hingegen sah man kein schlecht genährtes Tier, aber die Menschen waren dünn wie die Finger an der Hand: ein Haufen Frauen stand, wie Schachfiguren an einer Tischplatte und regten sich, arbeitsam und eifrig wie Bienen. Sie bearbeiteten den Boden, hoben und senkten Harken, bereiteten Essen zu oder ruhten sich im Schatten eines Feigenbaumes aus: alle mit hochgeschlagenen Röcken, Tüchern über Gesicht und nackten Armen und Beinen, gerbten sie ihre Haut, die in der Sonne bräunte.
Als Mila sie beobachtete, spürte sie, wie sich ihr als Flachländerin das Herz öffnete und wie der, lange insgeheim vorhandene Wunsch in ihr aufkeimte, vom Wagen zu springen, in die Gärten zu gehen und ebenso wie jene Frauen die weiche Erde, die feuchten Blätter, das rieselnde Wasser zu greifen, das mitten aus dem Schilfrohr hervorsprudelte, dessen goldene Kolben sich hoheitsvoll am Uferrand im Wind wiegten.
Matias hatte Recht gehabt: Die Ankunft in Ridorta, diesem versteckten Dorf oben auf dem Hügel, umgeben von der ringsherum sichtbaren Ebene, war schön und fröhlich; und da die Ankunft schon fröhlich war, konnte diese Einsiedelei mitten in den Bergen nicht so traurig sein, wie ihr jemand erzählt hatte. Mila stellte sich vor, dass es wie ein Nest auf einem Baum war und dass sie, wenn sie den Kopf aus dem Fenster hielt, unter sich das Wunder dieses erstaunlichen Fleckchens Erde sehen könnte. Oh, wenn sie nur mit der Zeit auch so einen kleinen Garten für sich haben könnte, den sie nach ihrem Geschmack anpflanzen könnte, dann würde es sie auch nicht länger schmerzen ihre Heimat für immer verlassen zu haben!
Von ihren Gedanken angespornt drehte sie sich um, beseelt von dem Wunsch, sich mit ihrem Mann zu unterhalten; aber als sie die zwei ihr zugewandten Rücken vor sich sah, blieben ihr die Worte im Halse stecken und die anregende Vorstellung, die sich in ihr geregt hatte, verschwand sofort wieder, wie ein furchtsames Tier.
Die beiden Männer unterhielten sich angeregt; ohne dass sie ihnen ihre Aufmerksamkeit schenkte, hörte sie Worte Kälte... Traurigkeit... Kälber... zu hoch... , wusste aber nicht, worüber sie sprachen, weil ihr Herz und ihre Gedanken abschweiften und sie den Kopf zu Boden senken ließen. Aber der Zauber war bereits verflogen und das Land, so schön und weich, konnte in ihr nicht mehr die warmen Gefühle dieses ersten Verlangens auslösen. Mit einem traurigen Seufzer ließ sie ihren Blick umherschweifen und hob die Augen: der Himmel war ein weites Feld voll blendender Helligkeit, die schmerzhaft in den übersättigten Augen stach ... Sie blickte durch den Spalt zwischen den beiden Männern: in der Ferne gleichmäßiges Grün, wie ein dichter, schöner Teppich... Sie lenkte ihren Blick wieder auf die beiden Rücken: einer, der des Bauern, war mager und knochig, wie die der Kühe in der Hochebene, und er trug ganz eng anliegend, wie eine zweite Haut, ein Hemd mit abgewetzten Nähten, das nach Schweiß und Staub roch. Der andere Rücken, breit und weich wie ein Kissen, schien sich aus der schwarzen Jacke, die ihn einengte und zwischen den Achseln spannte und ständig aufzureißen drohte, aufrichten zu wollen.
«Wie dick dieser Mann geworden ist, seit der Hochzeit!» dachte Mila, und bemerkte auf Neue, dass ihm alles zu klein geworden war und schließlich eng und faltig wie ein Talar schien. Sogar der Filzhut, der ihm vorher so gut gepasst hatte, ähnelte nach und nach immer mehr einer Priestermütze, und auf beiden Seiten der Mütze spitzen die Ohren hervor, erhitzt und im Gegenlicht durchsichtig, so wie zwei dicke Glashenkel. Der Falz des gebügelten Kragens weiter unten, der sich vom schwarzen Anzug und vom warmen Farbton des fleischigen Nackens abhob, schien ganz kühl, wie aus Marmor.
(Aus Solitud. Barcelona: Edicions 62, 2005)
Aus dem Katalanischen übersetzt von katharina Wieland ©