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Biel Mesquida

3. Alemany

DER SALZJUNGE

Die Traumatisierung meines Ichs durch jene Organisation, die man Familie nennt, begann schon im Bauch meiner Mutter. Falsch: das geschah viel früher; als eine befruchtete Eizelle sich mit wilder Gewalt an die Schleimhaut der Gebärmutter heftete, in der Hitze von Adern und Fasern. Falsch: das geschah noch viel früher; als ein winziger Spermatozoid auf der Suche nach einer Eizelle, mittels der Bewegung seiner zitternden Geißel durch einen Ozean schleimiger Nebel bis zu den Grenzen der Eileiter vordrang, und schließlich, physiologisch angezogen, seinen Kopf in die runde Fassung steckte. Falsch: die Traumatisierung habe ich noch viel viel früher erfahren: als ihr euch verliebtet, am Tag eures Kennenlernens, als mein Name noch nicht einmal existierte, in diesem unbekannten Projekt.

Die Mutter des Jungen liest laut die Widmung, die auf der ersten Seite des Hefts steht:

ALL DENEN, DIE KÄMPFEN (KINDER, JUGENDLICHE, PROLETARIER, FRAUEN, ALTE, GAYS, SCHWARZE, STUDENTEN, ETC., ETC.), UM FREI IHRE WÜNSCHE ÄUSSERN ZU KÖNNEN, UM SICH VON DER UNTERDRÜCKUNG ZU BEFREIEN (DER FAMILIÄREN, WIRTSCHAFTLICHEN, SEXUELLEN, NATIONALEN, SOZIALEN, STAATLICHEN, RELIGIÖSEN, JURISTISCHEN ETC., ETC.), UM JETZT, HIER UND EIN FÜR ALLE MAL DEM GENUSS ZU LEBEN.”

Für Josep-M. S.G

(Aus: L'adolescent de sal [Der Salzjunge], 1975, S. 365-366)

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EXCELSIOR ODER DIE GESCHRIEBENE ZEIT

"Son Maraldí, 27. Juni 1995."

Gestern Abend ist meine Mutter gestorben.
Wie blind habe ich diese sechs Wörter geschrieben. War es gestern Abend?
Wann beginnt das Gestern?
Wann endet der Abend?
Ich muss diese Worte mehrmals in Schönschrift schreiben, um mir bewusst zu werden, dass sie eine wahre Tatsache ausdrücken.

Kurz vor Sonnenaufgang habe ich das Boot genommen. Der Frau Großmutter habe ich nur gesagt: ‘Ich fahre zur Grünen Grotte. Ich kann nicht mehr’. Ihre Augen waren von einem verwässerten Blau und glänzten. ‘Vor dem Mittag musst du zurücksein. Das weißt du’, hat sie gesagt, während ich sie auf die linke Wange küsste und in die rechte kniff.


Das Bett der Frau Großmutter Maria Ignàsia ist ein Altar, mit seinen gewundenen Säulen und dem Himmel aus rotem Damast. Es stammt von einem Vorfahren, der Domherr war. Als ich klein war, hatte meine Großmutter mir erzählt, dass jener fromme Mann gern auf sieben Matratzen schlief. Jetzt, wo ich sie, die Mutter, in der Mitte zwischen den salomonischen Säulen aufgebahrt sah, musste ich an den Katafalk der toten Heiligen Mutter Gottes bei der Prozession zu Mariae Himmelfahrt denken. Die Mutter tot. Die Mutter ist tot. Meine Mutter tot. Diese drei Wörter gingen mir nicht aus dem Hirn, während ich die Bootsleine löste, den kleinen Außenbordmotor anwarf und den steinigen Küstenabhang von Son Maraldí entlangschipperte.”

(Aus: Excelsior o el temps escrit [Excelsior oder die geschriebene Zeit], 1955, S. 9 - 10)

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UNSINN

Alles in allem eine Ausschweifung

Er riss am dunkelgrünen Stern des Bocksbarts, während er seine speichelfeuchte Zunge in die Falten des Afterschließmuskels schob. Ich werde dein ganzes Arschloch verschlingen, murmelte er unter leichten Aufbäumungen und hustete wegen eines gekräuselten Haars zwischen den rasierten Beinen des Radrennfahrers, der lachend antwortete: Schleck mich ganz aus.

Die Dämmerung senkte sich in die Kronen der Pinien, tränkte das dunkle Rosa der Erikabüsche, wo jene beiden männlichen Figuren in Stellungen und Balanceakten von extremer Schwierigkeit aufeinander losgingen. Jetzt werde ich beide Eier bis zum Schlund hinunterschlürfen, und ohne Pause nahm er gleichzeitig Satz und Skrotum zwischen seine Zähne.

(Aus: Doi [Blödsinn], 1990, S. 181)

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EBENHOLZBÄUME IM GEGENLICHT

Eine Fremdsprache in den stammeseigenen Worten schreiben

MARGALIDA, MEINE LITERATURLEHRERIN, hatte es mir deutlich genug gesagt: “Andreu, du bis ein glänzender Schüler, aber ein bisschen seltsam. Das ist weder gut noch schlecht. Eher gut. Aber da ich dich so leidenschaftlich bei der Erforschung des Werks von Manuel Boldú i Montaner sehe, möchte ich dich auf die Schwierigkeiten dieses Autors aufmerksam machen. Es gibt keine Biographie, es gibt keine Archive. Es gibt kaum etwas direkt Veröffentlichtes. Alles, was man finden kann, sind Gedichte, Romanfragmente, verstreute Zeitungsartikel und Texte in Zeitschriften und der ein oder andere themenübergreifende Essay. Viel Arbeit wartet da auf dich. Vielleicht wäre es einfacher, wenn du einen bekannteren Autor wählen würdest." Ich bin sicher, dass Margalida litt, weil sie zusehen musste, wie ich etwas tat, was nicht gut für mich war, nämlich einem Gespenst hinterherzurennen, einem Schriftsteller ohne Werk; wobei sie nicht ahnte, dass gerade die Dunkelheit, das Nebulöse und das Geheimnisvolle, die diesen Namen und zwei Geschlechter umgaben, den ersten Anreiz für meine Nachforschungen bildeten. Alle Informationen über Manuel Boldú waren ungenau und widersprüchlich. Einige Kritiker sprachen über ihn als handele sich um einen Schriftsteller ohne Bücher. Sohn eines katalanischen Bankiers, verliebte er sich als Zwanzigjähriger in eine Mallorquinerin aristokratischer Herkunft, mit der er zwei Kinder zeugte: Manuel und Elisenda. Sie bewohnten ein stattliches Haus in "El Terreno", dem Villenviertel Palmas, und die Kinder gingen nie zur Schule. Sie wurden von Privatlehrern unter der Aufsicht ihrer Mutter, Donya Dionísia, erzogen, die als eine der schönsten und elegantesten Frauen Mallorcas galt. Einige Kommentatoren verglichen sie mit Louise de Vilmorin. In den Salons der Villa Nausikaa versammelten sich die bedeutendsten Persönlichkeiten der Intellektuellenschicht Palmas (Schriftsteller, Ärzte, Maler, Wissenschaftler), eine avantgardistische Vertreterschaft der Ausländerkolonie und berühmte Besucher (Graf Keyserling, D. H. Lawrence und Gertrude Stein waren drei der bekanntesten Gäste). In den dreißiger Jahren nahm Manuel an einigen Dichterwettbewerben, den sogenannten "Jocs Florals", in Barcelona teil und trat 1936 unerwartet der Falange bei. Man sagte, dass er Hofrat beim berüchtigten Graf Rossi und Kommandant der "Todesdragoner" war. Er verscholl in der Schlacht von Portocristo. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Bekannt sind nur Fragmente seines autobiographischen Werks Me Mòria (offensichtlich ein Wortspiel zwischen Memòria, Erinnerung, und me moría, ich starb), in dem er die inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester beschreibt. Ich ging zur Villa Nausikaa. Sie war von einer efeubewachsenen Mauer umgeben, über die, wie lilablaue Wolken, die Kronen eines im Gegenlicht glänzenden Waldes von Ebenholzbäumen hinausragten. Ich zog an einer Glocke. Telefonisch hatte ich mit einer Gesellschafterin von Donya Elisenda gesprochen, die mir einen Termin für diese Spätnachmittagsstunde gegeben hatte. Die alte Dame, die mir das Gittertor öffnete, unterrichtete mich, dass die Hausherrin krank sei und dass sie mir einen Brief übermitteln ließ. Darin erklärte jene mit höflichen Worten, dass sie mich nicht empfangen könne und dass sie die Kopie eines der letzten Texte ihres Bruders beifüge. Es war das Ende von Me Mòria: "Ich bin in einem geräumigen, dunklen Zimmer. Tag um Tag strenge ich mich an, es mit Vipern und Nattern zu füllen. Einmal im Zimmer, rollen die Schlangen sich schläfrig in- und aufeinander ein, so dass ich mich über sie hängen kann, ohne dass sie mich beißen oder mir sonstigen Schaden zufügen. In diesem Zustand, der lang währt, gewöhne ich mich an diese Anhäufung von Reptilien und habe keine Angst mehr vor ihnen; aber in einem Moment, wo ich es am wenigsten erwarte, öffnen sich mit einem Mal die Fenster dieses Zimmers und lassen das Tageslicht herein. Wie durch einen Sonnenmechanismus angetrieben, werden all diese Schlangen plötzlich wach und stürzen sich auf mich; die Schlangen vernichten mich; alle, ohne Ausnahme, lassen mich ihr Gift spüren. So schrecklich dieses Bild auch ist, so ist es doch nur eine schwache Beschreibung dessen, was die Menschen normalerweise tun und was in ihrer Todesstunde geschieht.” Ich las dieses Fragment und betrachtete von Neuem die Ebenholzbäume im Gegenlicht: Es waren wunderschöne zitternde Wolken, violett wie die Farbe eines violetten Himmels.

(Aus: Els detalls del món [Die kleinen Dinge der Welt], 2005, 217-219)

Aus dem Katalanischen übersetzt von Claudia Kalász ©




Amb el suport de:

Institut d'Estudis Baleàrics