Deutsch Anthologie
Elias Canetti hatte Recht, als er schrieb, dass Marrakesch ein Stimmengebäude sei. Und obwohl die Stadt sich seitdem stark verändert hat (es gibt keine Juden mehr in der Mella, sie sind alle nach Israel ausgewandert; es gibt auch keine Muezzine mehr auf den Minaretten: stattdessen rufen Tonbänder zum Gebet), hört man sie noch immer, Die Stimmen von Marrakesch. Man hört sie ganz tief versteckt, sie kommen von weit her, scheinen Traum und Wirklichkeit zugleich zu sein.
Welche sind nun aber die gegenwärtigen Stimmen von Marrakesch? Natürlich haben die Autos die Kamele ersetzt, genauso wie die Lautsprecher die Muezzine, aber die Minarette ragen immer noch wie schlanke Leuchttürme in den Himmel empor, und der Lärm auf den Straßen, akustische Arabesken, wie Canetti sagte; die übrigen Stimmen, vor allem die mysteriöstesten, wird jeder Reisende für sich selbst heraushören.
Marrakesch, das sind eigentlich zwei Städte, verbunden durch einen Platz.
El Gueliz, der von den Franzosen errichtete Teil, ist die erste angenehme Überraschung. Umgeben von üppig blühenden und grünen Gärten, verführt El Gueliz, das später von den Marokkanern Schritt für Schritt auf fast übertrieben pompöse Weise erweitert wurde, den Europäer, der, immer unter Stress und oft voller Vorurteile, Marrakesch besucht.
Denn Marrakesch kann verführen und tut es auch, wenn der Fremde nicht mit allzu vielen Vorurteilen dorthin kommt. Daher ist es gut und empfehlenswert, jemanden an der Hand zu haben, der einen die Stadt mit wohlwollendem Blick betrachten lässt, der einen freundlich mit ihr bekannt macht, damit man sie dann auf eigene Faust, mit eigenen Augen, nach und nach entdecken kann. Aus keinem bestimmten Grund, auch nicht aus Angst, sondern weil man sich in dieser wunderbaren Stadt verlaufen kann, abgelenkt von den tausendundeinen möglichen Verführungen.
Das andere Marrakesch ist die Medina (vorher gab es noch einen dritten Teil, die jüdische Stadt oder Mella, aber sie existiert heutzutage nicht mehr und ihre Häuser sind Teil der Medina geworden). Die Medina von Marrakesch ist, im großen und ganzen, noch in ihrer mittelalterlichen Bauweise erhalten, mit von Schilfrohr überdachten Gässchen, in denen es immer eng zugeht, in denen die dichte Mischung vergangener Zeiten und verschiedener Gerüche einen in weite Ferne Schweifen lässt und gleichzeitig zum Verweilen einlädt. Diese Duftlabyrinthe voller kleiner Überraschungen genügen, um in mir Erinnerungen wachzurufen. Die Stadtlandschaft ist mir angenehm, trotz der außergewöhnlichen Unterschiede, genauso wie mir die Ländlichkeit von biblischer Einfachheit, die sie umgibt, nahe ist. Ich will damit sagen, dass ein Großteil der Sympathie, die ich für diesen Ort empfinde von dieser aufregenden Nähe herrührt, einer Nähe, die sowohl aus dem starken Duft der Orangenblüten, als auch aus dem Gestank nach vergammeltem Stroh mit großen Maultieräpfeln strömt.
Man kennt Marrakesch nicht richtig, wenn man je überhaupt eine Stadt richtig kennen lernen kann – ach, mit den Städten ist es da nicht anders als mit den Menschen! - solange man nicht auf Jemaa el Fna gewesen ist, dem Platz aller Plätze. Und ich spreche hier nicht von einem mächtigen, monumentalen Platz, wie es so viele auf der Welt gibt, sondern von einem sehr menschlichen Platz, einem einzigen großen Markt, einer Bühne mit Dauervorstellung, einem Ort voller Leben und zahlreicher Begegnungen. Ein Platz voller Düfte, die zum Träumen anregen, voller Gerüche und dichtem Rauch, klangvoller Rhythmen und Stimmen, die man hört, ohne dass sie sich wirklich ausbreiten, voller Worte und verschwörerischem Lächeln, voller Augen, die die Ewigkeit betrachten...
Der Platz Jemaa el Fna ist nicht nur ein großartiger Markt des Elends und der Wunder, nein; er ist nicht nur ein Ort, an dem man alles, was man sich nur vorstellen oder wünschen kann, auch findet und zu jeder Tages- und Nachtzeit kaufen kann, wenn man nur das nötige Geschick und die Geduld dazu hat; der Platz Jemaa el Fna ist der Spiegel, in dem sich Marrakesch betrachtet und zeigt. Ein Spiegel oder Markt der Sensationen, der Stimmen, der akrobatischen Bewegungen, der grellen Farbmischungen, der Wohlgerüche und des Gestanks, der Musik und der Geschichten... Er ist ein Platz, der sich nie ganz beschreiben und nur in kleinen Stücken fotografieren lässt; ein Platz, der jedes Mal, wenn man hingeht, anders ist, ein Platz, über den man bei Einbruch der Nacht spazieren muss, voller Überraschungen.
Einen Tee im Freien zu trinken, vor sich das menschliche Gewimmel von Jemaa el Fna zu sehen, d. h. Besitz von der Stadt zu ergreifen. An Orten wie diesen lässt sich der Besucher von Marrakesch verführen. Ich bin einer von vielen. Und in der Abenddämmerung in Jemaa el Fna – „Die Versammlung der Toten“, so heißt es hier – tauchen alte Stimmen auf, von denen, die nicht mehr sind und hierher zurückkehren; feurige Stimmen, mit der alten Magie der Märchen ; vertraute Stimmen, obwohl sie in einer unverständlichen Sprache tönen. Während ich zusah wie einige Zypressen schüchtern rot wurden, eine reife Dattel nach der anderen kostete, Wörter auf Arabisch lernte, ein paar Hörnchen mit Honig (so wie die, von denen man uns als Kinder erzählte, dass sie ein Geschenk des Himmels seien) probierte, besah ich mir die ganze Zeit über die unzähligen erleuchteten Stände mit Obst, Werkzeug, Menschentrauben, Essen und Liedern in Hülle und Fülle. Und ich sog diese Welt ganz in mich auf, so exotisch und doch vertraut. Ich habe die gehört, die sprechen und die, die schweigen, die, die offen alles preisgeben und die, die verbergen.
Später, in den schattigen überdachten Straßen der Medina, zwischen Gruppen von sich zusammengesellenden Jungen, mit den Caféterrassen voller Männer; zwischen Rosenduft und dem Gestank nach Tieren, einer Bande von Jungen, die mit ihren verschlissenen Fahrrädern herumrasen, alterslosen Frauen und mit offenen Augen für das alles …, habe ich verstanden, dass das Paradies, das verlorene und das unmögliche, das im Diesseits und das im Jenseits, das natürliche und das künstliche immer diesen süß-säuerlichen Geschmack von Datteln haben wird.
Marrakesch betrügt nicht, gar nicht; es unterbreitet einem nur nach und nach seine Zauber. Und ich dachte: „Es sind nicht die geschmacklichen Empfindungen, noch die auffällige Stille der Leute, was uns von den Muslimen unterscheiden, nein. Es ist die religiöse Wahrnehmung des Lebens. Wir, unschuldige Kinder eines toten Gottes, eines Gottes, den unsere Vorfahren umgebracht haben, haben das tägliche Erleben des Sakralen/Geheiligten verloren. Sie nicht.
(Aus Seduccions de Marràqueix. Barcelona: Edicions 62, 1996, S. 79-82. Übersetzung von Katharina Wieland)
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DIE POESIE
Nicht himmlische Stimmen sind es, die von fern
in dir sprechen. Geliebte Stimmen sind es.
Innere Stimmen und entfernte, Stimmen, die dir
einen Weg zeigen
von dem niemand weiß wohin er führt.
Manche Stimmen sind wie Laternen in einer dunklen Gasse;
andere wie ein vno weit herkommendes Gemurmel.
So manche haben uns zum Schreiben gebracht.
Verschwiegene, abwesende, schweigende Stimmen…
Die Poesie ist in Klänge verwandelte Stimmen
die uns sagen, woher wir kommen, wohin wir gehen
und wer wir sind.
(Die Poesie, 2008. Übersetzung von Theres Moser)