3. Alemany [Sota la pols]
Von einer Welt zur anderen
Plötzlich passierte aber etwas, das ich nur vage und in Schwarzweiß in Erinnerung habe, voller Geräusche und Bewegungen, die offensichtlich nicht zusammenpassten. Und tatsächlich, so wie Vater sagte, konnten wir uns offensichtlich nicht mehr aufrappeln, so als hätte uns nach Ende des Kriegs nur noch ein Unglück nach dem anderen heimgesucht. Das verdammte Elend saß uns im Nacken, fügte er hinzu, und nagte unaufhörlich an uns. Und nach Meinung der Mutter sollten wir auch noch dankbar sein, dass uns nichts dergleichen passiert wäre...
Eines Nachts klopften sie auch an die Tür unseres Hauses, und wir hörten eine Stimme, die nach meinem Vater rief. Es war Onkel Pere, Mutter und Vater eilten hin, um ihm zu öffnen. Ich konnte sie trotz der Verwirrung auf dem Bett sitzend ganz genau hören und verstehen, dass uns der gleiche Schlag schon wieder traf. Ich konnte mich überhaupt nicht rühren und empfand eine völlige Verlassenheit, die es mir unmöglich machte, aufzustehen, zu denken oder auf welche Weise auch immer zu reagieren. Ich hatte auch nie Onkel Pere je so außer sich reden hören, aufgeregt und schrecklich ernst. Er, der immer diese Verschmitztheit im Hintergrund hatte...
»Esteve ist mit dem Auto verunglückt«, schrie er, »er ist tot...!«
Ich weiß nicht wie ich es wissen kann, wo ich doch im Bett lag, aber ich bin sicher, dass der Onkel sich mit den Händen an die Stirn schlug. Ich habe diese Geste bei ihm schon bei anderen Gelegenheiten gesehen, wenn ihm irgendetwas zu viel war: dann schlug er sich nämlich mit der flachen Hand auf die Stirn. Tante Nelli sagte dann zu ihm, er sei verrückt, er würde sich noch den Schädel zertrümmern, aber er hörte nicht auf sie und schlug sich auf die Stirn, bis sie rot angelaufen war... In dieser Nacht schien er mir jedenfalls genau so zu handeln. Ich sehe ihn vor mir, wie er sich so auf die Stirn schlägt und schreit, dass Esteve mit dem Auto verunglückt ist, und der Vater, leichenblass wie immer, wenn er erschrocken war, und die Mutter, wortlos die Hände vors Gesicht geschlagen.
»Verdammte Scheiße«, schrie der Onkel, »was für ein Unglück!... So ein Unglück!«
Dann erinnere ich mich vage daran, dass sie mich aufforderten, mich anzuziehen, dass der Onkel einen Unfall gehabt hätte, und so verließen wir mitten in der Nacht das Haus.
Die Straßen waren leer, schwarz, ruhig, ohne Autos, und wir vier machten uns rasch auf den Weg zu Onkel Pere. Der Vater war ganz weiß im Gesicht, wie ein Gespenst. Die Mutter hatte sich einen Rock angezogen, der mir länger als sonst vorkam. Ich hatte ein helles Hemd und dunkle Hosen an. Alle Fenster der Häuser waren erloschen. Nur ein schmaler Mond und wenige Sterne.
»Esther hat ein Taxi kommen lassen...«, meinte Onkel Pere, während wir weitergingen.
»Und wird uns das nach Castelldefels bringen?«, fragte meine Mutter nach einer Weile.
»Das nehme ich wohl an...«, antwortete der Onkel.
Es war seltsam, so niedergeschlagen von dieser tragischen Nachricht durch die friedlichen Straßen zu gehen. Ich hatte wahrscheinlich noch gar nicht richtig kapiert, was los war, spürte aber, dass uns der Tod auf grausame Weise im Nacken saß. Und abgesehen davon fand ich, wo auch immer ich hinsah, alles hässlich, schäbig und düster. Der Vater von Daniel im Gefängnis, das noch immer nicht geheilte Bein von Perico, die im Spital Verstorbenen, der Dreck im Haus von Cèsar, das kränkliche Aussehen von Miquel, weil er so oft in die Kirche ging, die Probleme von Joanet und von all denen, die im Krieg Verwandte verloren hatten... Und nun ist auch noch Onkel Esteve tödlich verunglückt, sagte ich mir... Was soll das heißen, dass er mit dem Auto verunglückt ist, fragte ich mich. Wo war das passiert? Wie kommt es, dass sie Onkel Pere benachrichtigt haben? Ich wusste, dass all diese Fragen einfach zu beantworten wären, hatte aber keinen Mut dazu. Leben, genau das erinnere ich mich gedacht zu haben, war wie auf einem Boot zu sein und gegen die Strömung zu rudern. Ein trüb dahin fließender Fluss riss uns mit sich fort und wir kämpften dagegen an. Es gab wenige Momente der Ruhe, aber doch. Manchmal war alles voll, und dann war wieder alles leer. Ich erinnerte mich, bittere Früchte gegessen und ausgespuckt zu haben, und erinnerte mich auch an eine handvoll Kirschen, blutrot und süß wie Honig. Während ich an all das dachte spürte ich meine Lider schwer werden, gewiss vom Schlaf, und zum Haus meines Onkels zu fahren wurde mir schwerer denn je. Ich erinnerte mich an den Schüler aus dem Roman, von dem mir Cèsar erzählt hatte, wie schwierig mochte wohl seine Lage gewesen sein? Im Grunde fühlte er sich schuldig, weil die anderen ihn schuldig machten, indem sie sein Vergehen für strafbar erklärten. Auf dem Schüler lastete daraufhin eher die Gesellschaft, und nicht so sehr sein eigenes Gewissen... Wie auch immer, jedenfalls kamen mir beim Gehen solche Dinge in den Sinn. Schuld, Schwierigkeiten Erschöpfung, Gleichgültigkeit... Weil ich in Wahrheit überhaupt keine Lust hatte zu weinen, nicht die geringste, sondern nur müde und traurig war.
Als wir an der Straßenecke, wo der Onkel wohnte, ankamen, sahen wir plötzlich meine Cousine Esther winken. Ein Stück weiter hinten stand ein großes Taxi mit schon offenen Türen. Der Fahrer war aus dem Auto gestiegen und wartete, während er mit dem Nachtportier plauderte. Und ebenso plötzlich, wie vorbestellt, kamen Tante Nelli und meine Cousine Lola aus der Tür. Sie schienen mir rasch wie Schatten herauszukommen, aber das bildete ich mir vielleicht nur ein. Sie schienen mir auch eine ganze Gruppe zu sein, obwohl es sich nur um sie beide handelte. Ich kann mich an kein Geräusch, an keine Stimme erinnern, die den Frieden der Straße gestört hätte. Nur an das von Esther gemurmelte »Hallo«, während sie mir einen Kuss auf die Wange drückte.
Danach klappte der Nachtportier die Sitze des Taxis auf und wir stiegen einer nach dem anderen ein. Onkel Pere setzte sich vorne neben den Fahrer. Vater und Tante Nelli saßen auf den Klappsitzen, Mutter und wir, Esther, Lola und ich nahmen auf dem Hintersitz Platz. Ich hatte den Eindruck, das Taxi wegfahren zu sehen. Will heißen: der Nachtportier stand mitten auf der Straße, mit seiner Kappe auf dem Kopf, und mir schien das Taxi davonzufahren, so wie er es sah. Als einen einzigen Lichtpunkt, der sich in der Dunkelheit der Nacht verlor.
Ich war noch nie so lang mit dem Taxi gefahren, und schon gar nicht über Landstraßen. Vorher waren wir aber durch in Schlaf versunkene Gassen gekurvt. Ich sah einen Mann, die Hausmauer entlang schleichend. Und gleichzeitig sah ich auch das Taxi aus der Sicht jenes Mannes. Ein Taxi voller Leute um diese Zeit kann nur Unglück bedeuten... Der Vater fing zu rauchen an. Er füllte seine Lungen mit Rauch und stieß diesen wieder langsam aus. Er und ich sahen uns einen Augenblick lang wortlos in die Augen. Ich werde mich immer an seinen klaren Blick in jener Nacht erinnern. Die Mutter drückte sich zur Seite, um uns Platz zu machen. Tante Nelli blickte halb gedreht nach vorne.
»Ein Glück, dass wir sie gefunden haben, nicht?«, sagte die Tante zum Taxifahrer.
»Schade nur, dieser Anlass...«, antwortete er.
»Klar«, antwortete die Tante.
Als das Auto die Hauptstraße erreichte und schneller wurde, schien es, als würden wir in einen schwarzen Rachen kommen, der uns verschlang. Der Onkel und der Fahrer unterhielten sich einen Augenblick lang. Der Onkel meinte, sobald wir in Castelldefels wären, würde er ihm schon den Weg weisen.
Daraufhin zündete sich der Fahrer eine Zigarette an.
»Wann sind wir da?« fragte Lola nach einiger Zeit verschlafen.
»Gleich«, sagte die Tante.
Wir waren alle etwas ruhiger geworden. Ich schlief vielleicht sogar. Ich hatte den Eindruck, von Schwindel erfasst zu werden und drohte, in den Abgrund zu fallen. Als wir schließlich bei der Tante ankamen, erfuhren wir, dass der Onkel mit einem Freund zum Abendessen gefahren war. Auf dem Rückweg hatte er, da er kein besonders geübter Fahrer war, die Kontrolle über den Wagen verloren, sie stürzten über einen Steilhang und prallten schließlich gegen einen Baum. Sein Beifahrer konnte sich aus dem Auto befreien und suchte schließlich auf der Straße nach Hilfe. Er hatte nur ein paar Schnitte im Gesicht und an den Händen, der Onkel jedoch hatte sich das Lenkrad in den Brustkorb gerammt und starb augenblicklich, für ihn kam jede Hilfe zu spät.
(Sota la Pols, 2001)
Aus dem Katalanischen übersetzt von Theres Moser ©