Auf den Spuren der Renée Vivien [La Passió segons Renée Vivien]
"Es war an einem Sonntag. Nach einer ganzen Woche Regen und verhangenem Himmel schien sich die Sonne ein Herz fassen und ein paar schüchterne Strahlen durch die Ritzen zwischen den immer noch dichten Wolken schicken zu wollen. Das Laub im Park Monceau, den Amédée vom geräumigen Balkon seiner Wohnung auf dem Boulevard Courcelles aus sah, schwankte zwischen glitzerndem Grün, dem Glanz polierten Kupfers und einem diffusen Shatten, der alle Farben in einer traurigen Unbestimmtheit ertränkte. Am vergangenen Mittwoch hatte ein seltsames Ereignis stattgefunden, für das die Meteorologen zweifellos eine Erklärung haben mußten, das aber für Amédée weiterhin in die zauberhafte Aura des Geheimnisvollen getaucht blieb. Plözlich, um elf Uhr vormittags, hatte er vom selben Ort aus, an dem er sich nun befand, beobachten können, wie die Nacht jäh einem Raubvogel gleich auf Paris hinabstieß, und im Nu war alles in Dunkelheit versunken. Die elektrischen Lichtter gingen nach und nach in den Häusern dieses noblen Viertels an, und sie wirkten wie die kleinen Kerzen, die Betschwestern vor den Heiligenbildern anzünden, oder wie Grablichter. Die Autobusse, Straßenbahnen, Kutschen und die protzigen Automobile hatten sich mit ihren Scheinwerfern dem zwecklossen. Die Finsternis aber hatte mit grausamer, unergründlicher Heimtücke von allen Besitz ergriffen, bie sie sich, scheinbar von einer königlichen Laune erfaßt, so unerwartet, wie sie eingetreten war, dazu herabgelassen hatte, sich wieder zurückzzuziehen. An diesem Sonntag jedoch hatte alles seine Ordnung: ein klassicher Herbsttag wie alle anderen, und zusätzlich noch mit dem überraschenden, wohltuenden Geschenk von ein paar shräg, einfallenden Sonnenstrahlen bedacht. Seine Nichten hatten ihren Besuch angekündigt. Sie wünschten, von ihm in den Louvre begleitet zu werden. In letzter Zeit war die Kunst zu einer Vorliebe von Rose geworden; das ging so weit, daß sie ihn gebeten hatte, ihr die Histoire générale des Arts plastiques von Salomon Reinach zu leihen. Und sie war auch dazu tatsächlich imstande grewesen, sie von vorne bis hinten zu lesen. Ihre ältere, etwas träge Schwester folgte ihr bereitwillig iz zwei Schritten Abstand nach. "Später, Onkel, müssen Sie uns einmal ins Museum von Saint Germain-en-Laye führen. Monsieur Reinach ist dort Direktor, und er sagt..." "Gut, gut", räumte er ein. "Und woher weißt du das alles? Ich sehe schon, dein alter Onkel ist nicht der einzige, der dich in das Reich der Musen geleitet..." Sie sprach nur von einer Professorin, einer gewissen Mademoiselle Bonheur, doch aufgrund der Röte, die plötzlich ihre Lippen und Wangen färbte, hatte Amédée irgendeinen jungen Kavalier in Verdacht. In Kürze, dachte er mit Bedauern, würden sie unvermeilich in die Welt der Erwachsenen eintreten. Ohne Widerruf, so sehr sie sich auch dagegen sträuben mochten. Es gab Menshen, die sich erbittert dagegen wehrten. Das war bei ihm nicht der Fall gewesen. Mit einer angeborenen Kompromißbereitschaft ausgestattet, hatte der junge Amédée, dieser Knabe, der ihm aus so weiter Ferne in Erinnerung kam. bestens erfaßt, was von ihm für das Gebotene erwartet wurde, und hatte eingewilligt, den Preis dafür zu zahlen. Auf der anderen Seite der Waage hatte in seinem Inneren lange Zeit die Überzeugung fortbestanden, seine letzte, stets skizzenhafte Wahrheit an einem für die Zwänge der Welt nicht zugänglichen Ort unversehrt bewahrt zu haben. In diesem unkonkreten, unverletzbaren Bereich siedelte er die Poesie an. Als ihn seine Familie nach Leeds geschikt hatte, damir er sich mit den letzten Neuerungen der Textillbranche vertraut machte, lernte er gewissenhaft: Er wußte, daß er in naher Zukunft das Unternehmen führen würde und war fest entschlossen, dies auf eine möglichst den modernen Zeiten entsprechende Weise zu tun. Wenn ihm das schon Blut und Abstammung geboten, so brachte er zusätzlich noch die ganze Begeisterung eines Neulings mit. Die Welt veränderte sich. Es war notwendig, daß dieser alte Baum, der seine Wurzeln in vergangene Jahrhunderte geschlagen hatte, sich in seiner ganzen Pracht zeigte und der Herausforderung der Zukunft ins Auge sah! Zweifellos waren die Zeiten günstig für allerlei Parvenus, und die amerikanische Baumwolle verdrängte überall die alten Marerialien, doch nichts sollte die Takraft einer alten Sippe von Wollwebern aufhalten. Und Amédée nahm diese Aufgabe an. Im tiefsten Inneren jedoch, das wußte er genau, gab es etwas anderes, etwas Unüberttragbares, das ihm in viel höherem Maß angehörte. Etwas Wesentliches, das er nicht genau benennen konnte, und das durch die Risse all desen, was seinen Alltag bestimmte, hindurchglitt. Etwas wie... Dichter, zum Beispiel. Und wenn er es watge, seinem Verlangen so verschwommene Umrisse wie die jenes mythenumrankten Wortes zu geben, erschauerte er. In Leeds überraschte ihn oft die Morgendämmerung beim Lesen des alten Wordsworth, der ihn glühend begeisterte, oder des jungen Swinburne, bei desen Lektüre es ihm heiß und kalt hinunterlief, er wußte nicht, ob aus Genuß oder aus Abscheu, oder wegen beidem gleichzeitig. Er selbst rang oft mit dem unbeschriebenen Papier: tiefgrüne Landschaften, erfüllt von diesiger Schwermut, engelhafte Nymphe, ferne, unerreichbare Lieben... Er schrieb schon seit Jahren keine Gedichte mehr. Manchmal schien ihn ein vereinzelter Vers aufzusuchen, wie eine alte Gewohnheit, die sich weigert, gänzlich zu verschwinden, aber er war bloß eine flüchtige Berührung. Nun wußte er schon, daß er niemals ein Dichter sein würde. Vielleicht war ihm das immer klar gewesen, nur hatte das Alter endgültig jegliches Alibi und den unbefristeten Aufschub zunichte gemacht. Er sagte sich, daß er alles, was ihm aufgetragen worden war, su einem guten Ende gebracht hatte, und das verschaffte ihm eine gewisse Seelenruhe: Seine Schuld mit der Welt war beglichen. Es blieb aber noch eine unbestimmbare mit etwas noch Unbestimmteren offen, das —wie er glaubte— er selbst wat. Diese nicht mehr begleichen zu können, tränkte die seltenen Momente seines Unbehagens mit Bitternis."
(Auf der Spuren der Renée Vivien. Viena: Milena, 1998, S. 16-20)
Aus dem Katalanischen übersetzt vonTheres Moser ©